Entscheidungs-Psychologie

An einem verregneten Wochenende habe ich ein paar alte Bücher rekapituliert und bin über dieses spannende Thema gestolpert.

In Rahmen eines Experiments wurden zwei Gruppen von Versuchspersonen verschiedenen Gedankenexperimenten unterzogen.

Die erste Gruppe sollte sich in einem dieser Experimente vorstellen, dass sie Theaterkarten für 60 Euro gekauft hätten.

Am Abend der Vorstellung stellten sie jedoch an der Kasse fest, dass sie die Karten zu Hause vergessen hatten.

Es gibt aber noch Karten an der Abendkasse zu kaufen – zum Preis von ebenfalls 60 Euro.

Die Frage war: bezahlen sie die Theaterkarten erneut oder gehen sie nach Hause?

Die zweite Gruppe sollte sich hingegen vorstellen, dass sie Theaterkarten für 60 Euro reserviert hätten und diese an der Abendkasse mit Bargeld bezahlen wollten.

Daher holen sie sich einen größeren Betrag Bargeld, z. B. 200 Euro, von der Bank, um damit die Karten zu zahlen.

Am Abend der Vorstellung stellten sie jedoch an der Kasse fest, dass ihnen von dem Bargeld 60 Euro gestohlen worden waren.

Dennoch reichte der Restbetrag in ihrem Geldbeutel noch zum Bezahlen der Karten aus.

Die Frage war auch hier: kaufen sie die Theaterkarten oder gehen sie nach Hause?

Ihr könnt Euch ja die beiden Szenarien selbst vorstellen und überlegen, wie Ihr Euch entschieden hättet.

Das Experiment zeigte, dass der weit überwiegende Teil der ersten Gruppe sich entschied, nach Hause zu gehen.

Der Großteil der zweiten Gruppe hingegen bezahlte die Karten.

Dabei war der Verlust in beiden Fällen genau gleich: 60 Euro.

Offenbar gibt es also einen „gefühlten“ Unterschied zwischen Bargeld und Sachleistungen und/oder Gewinn oder Verlust desselben. Der Verlust von Theaterkarten, einer Sachleistung also, wird als dramatischer empfunden als der des ideellen Guts „Geld“.

Anders ausgedrückt: die Rahmenbedingungen, unter denen sich ein Verlust ereignet, entscheiden, wie man ihn empfindet und – was viel wichtiger ist – welche Entscheidungen man von ihm ableitet.

In einem weiteren Experiment wurden zwei Gruppen gebeten, sich vorzustellen, dass sie auf der Fahrt zum Flughafen in einen Stau gerieten und ihren Flug daraufhin verpassten.

Die eine Gruppe sollte sich vorstellen, ihn um mehr als 30 Minuten verpasst zu haben.

Die andere Gruppe sollte sich vorstellen, ihn nur um 5 Minuten verpasst zu haben.

Es zeigte sich, dass die zweite Gruppe wesentlich verärgerter war als die erste, obwohl das Ergebnis in beiden Fällen genau gleich war: Der Flug wurde verpasst.

In einem weiteren Experiment las ein Versuchsleiter einzelnen Personen mehrere Zahlen vor und bat sie dann, die nächste Zahl dieser „Reihe“ zu nennen.

Die Versuchspersonen versuchten nun in den Zahlen ein Muster zu erkennen, um die nächste Zahl herleiten zu können.

Auf Wunsch las der Versuchsleiter auch weitere Zahlen vor.

Jedoch sagte er ihnen, dass die Versuchspersonen diesen Test mit einer besseren „Note“ abschlössen, wenn sie möglichst wenige Zahlen benötigten, bevor sie die (richtige) Antwort gäben.

Gaben sie die falsche Antwort, so bekamen sie ebenfalls weitere Zahlen vorgelesen.

Der Clou des Experiments war jedoch, dass die Zahlen absolut zufällig waren und keinerlei innere Ordnung hatten.

Dennoch glaubten viele Versuchspersonen, die richtige Antwort zu kennen.

Dabei zeigte sich, dass je länger die Versuchspersonen an einer „Lösung“ gearbeitet haben, sie umso fester von deren Korrektheit überzeugt waren.

Selbst dann, wenn sie schwarz auf weiß gezeigt bekamen, dass es sich um Zufallszahlen handelte, war es sehr schwer für sie, den mühsam erarbeiteten „Glauben“ wieder abzulegen und die Wahrheit zu akzeptieren.

Manche gingen sogar so weit, dass sie den Versuchsleiter zu überzeugen versuchten, dass dieser ihre geniale Lösung nur übersehen hatte …

Was die beiden Wissenschaftler Kahnemann und Tversky mit diesen Experimenten begründeten, ist die »Neue Erwartungstheorie«, für die Kahnemann dann auch den Nobelpreis erhielt.

Die neue Erwartungstheorie ist seither eine der wesentlichen Grundlage von Ökonomie und Soziologie und wurde in einer Vielzahl von weiteren Experimenten bestätigt.

Sie funktioniert so gut, dass man sogar mathematische Modelle aus ihr ableiten kann, die sich für die Vorhersage menschlichen Verhaltens eignen (und auch tatsächlich genutzt werden).

Eine Kernaussage dieser Theorie ist, dass wir Menschen stärker motiviert sind, Verluste zu vermeiden, als Gewinne zu maximieren.

Vereinfacht ausgedrückt ist „aufgeben“ oder „etwas verlieren“ für Menschen deutlich schwerer zu akzeptieren als einen entgangenen Gewinn, vor allem, wenn es sich um materiellen Verlust handelt. Ideeller Gewinn (als Konzepte wie Geld, Frieden, Glück oder Liebe) wiegt nicht so schwer wie der Verlust von materiellen Gütern.

Eine andere wesentliche Aussage dieser Theorie ist, vereinfacht gesagt, dass wir jede unserer Entscheidung nur auf Basis von Hypothesen treffen. Wir tun also so, „als ob“ und entscheiden dann. Und das selbst dann, wenn wir wissen (!), dass die Hypothese falsch ist.

Das steht im krassen Widerspruch zur Alltagserfahrung, in der wir davon ausgehen, dass Menschen, insbesondere „Profis“ wie Wissenschaftler oder Richter, nur nach rational und Kosten/Nutzen optimierenden Beweggründen handeln.

Dem ist aber nicht so.

Tatsächlich handelt niemand so.

Beispielsweise untersucht ein Richter bei der Festlegung des Schuldmaßes eines Täters nicht erst die grundsätzliche Frage, ob Menschen für ihr Handeln überhaupt alleine verantwortlich gemacht werden können.

Vielmehr geht der Richter bei seiner Entscheidungsfindung so vor, _als ob_ der Mensch einen freien Willen hätte und alleine für seine Handlungen verantwortlich sei.

Diese Annahme ist aber unbewiesen. Schlimmer noch: sie ist sogar prinzipiell unbeweisbar.

Aber selbst, wenn der Richter dies weiß und obwohl er eigentlich „im Zweifel für den Angeklagten“ entscheiden würde und es demnach ganz offensichtlich „begründete Zweifel“ an der Schuldfähigkeit gibt, hält er an seinem Vorgehen fest und wird eine Entscheidung treffen.

Warum ist das so?

Weil Gesellschaft nicht anders funktionieren kann. Sie braucht „axiomatische Annahmen“, einen Konsens. Jede bekannte Form des menschlichen Zusammenlebens geht beispielsweise davon aus, dass der Mensch einen freien Willen hat und daher zu Moral und Ethik verpflichtet ist. Auch unsere aufgeklärte, die es längst besser weiß.

Dazu noch ein Beispiel:

Schrödinger (der mit der Katze) sagte: „jedermanns Weltbild ist und bleibt eine rein geistige Konstruktion und hat darüber hinaus keine eigene Existenz“.

Er sagt also: Es gibt in keinem Kopf keines Menschen auf der Welt „die Welt, wie sie ist“ oder „die Wahrheit“.

Wer es nicht weiß: Dieser Mann hat mathematisch bewiesen, dass es Erfahrungshorizonte gibt, die prinzipiell nicht überschritten werden können.

Er hat bewiesen, dass es keine absolute Wahrheit gibt – auch nicht in der Physik.

Und das hängt nicht davon ab, wie sehr wir uns noch weiterentwickeln und zu welchen Erkenntnissen wir noch gelangen.

Unsere Beschränktheit ist eine fundamentale, unausweichliche und nicht „auszutricksende“ Konstante des Kosmos.

Das wissen wir also. Und dennoch: wir alle haben also unsere eigene Vorstellung von der Realität – von den Dingen, „wie sie sind“ – und leiten davon unsere Entscheidungen ab.

Und bei diesen Entscheidungen werden wir – wie eben gesehen – keineswegs von rationalen Überlegungen geleitet, sondern von unbewussten Prozessen, die irrational verzerrt sind.

Selbst wenn wir uns dessen bewusst sind (oder bewusst gemacht werden) ist es uns unmöglich, anders zu handeln.

Gesellschaft bedeutet nun, dass viele dieser Vorstellungen von „der Welt wie sie ist“ konvergieren und diese Schnittmenge, der „gesunde Menschenverstand“ den Kompass festlegt, an dem das eigene Weltbild zu messen ist. Das ist keine bewusste Entscheidung. Es ist auch keine Form der Demokratie, sondern einfach nur ein selbstorganisierter Prozess. Kommunikation (wie im Beispiel mit den Zufallszahlen) bringt uns ganz einfach dazu, in eine gewisse Richtung zu denken. Diese Denkprozesse werden fortgeführt und verfestigen sich, bis ein Modell der „Wirklichkeit“ entsteht. An dem noch zu rütteln ist schwer – manchmal unmöglich.

Selbst dann, wenn es eine Vielzahl von Beweisen für Fehlerhaftigkeit des Modells gibt. Und sogar dann, wenn uns bewusst ist, dass das Modell fehlerhaft ist, können wir uns nur unter großen Anstrengungen davon lösen. Wenn aber kein vollständiger Gegenentwurf existiert, sondern Zweifel und Unsicherheit, dann wird der Verlust der Sicherheit „im falschen Modell“ viel schwerer wiegen als der mögliche Gewinn einer neuen, eventuell vollständigeren Weltsicht. In diesem Fall wird es doppelt schwer, den Menschen von seinen Vorstellungen abzubringen.

Psychotherapeuten werden das wohl leidvoll bestätigen … 😉

Wenn es dann noch viele Menschen sind, die derselben Vorstellung anhängen und einander ihrer bestätigen – na ja, Ihr könnt es Euch denken.

Wer jetzt aber glaubt, ihn/sie beträfe das nicht bzw., dass Wissen, Alter oder Erfahrung davor schützte:

Es läuft bei uns allen so. Es sind nicht einzelne, wenige, dumme oder einfältige Individuen, sondern tatsächlich ist es jeder Einzelne von uns. Auch Du.

Und leider sind es gerade die besonders eifrigen, die sich intensiv mit einer „Wahrheit“ befassen, die sich am schlechtesten wieder von ihr lösen können.

Ich hoffe, Ihr konntet bis hierher folgen.

Und ich hoffe, Ihr konntet nachvollziehen, wieso eine „Wahrheit“ selbst dann nicht die Wahrheit ist, wenn eine Vielzahl von Menschen daran glaubt oder sie „dem gesunden Menschenverstand nach“ wahr sein muss.

Ganz besonders hoffe ich, dass ihr erkennt, dass die Abwägung, was Gewinn und Verlust sind, nicht „dem Gefühl nach“ getroffen werden darf, weil das Gefühl uns immer betrügt und sogar gegen uns eingesetzt werden kann.

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